Eines Nachmittags — K. war gerade vor dem Postabschluß sehr beschäftigt — drängte sich zwischen zwei Dienern, die Schriftstücke hereintrugen, K.s Onkel Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen des Onkels erschrocken war. Der Onkel mußte kommen, das stand bei K. schon etwa einen Monat lang fest. Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er, ein wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon von weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel befand sich immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken verfolgt, bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse er alles erledigen können, was er sich vorgenommen hatte, und dürfe überdies auch kein gelegentlich sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder Vergnügen sich entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen. „Das Gespenst vom Lande“ pflegte er ihn zu nennen.
Gleich nach der Begrüßung — sich in das Fauteuil zu setzen, wozu K. einlud, hatte er keine Zeit — bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. „Es ist notwendig,“ sagte er, mühselig schluckend, „zu meiner Beruhigung ist es notwendig.“ K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer mit der Weisung, niemand einzulassen. „Was habe ich gehört, Josef?“ rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte ohne hinzusehn verschiedene Papiere unter sich, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte, was kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer, zwischen zwei Geschäftsauslagen. „Du schaust aus dem Fenster,“ rief der Onkel mit erhobenen Armen, „um Himmels willen, Josef, antworte mir doch. Ist es wahr, kann es denn wahr sein?“ „Lieber Onkel,“ sagte K. und riß sich von seiner Zerstreutheit los, „ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst.“ „Josef,“ sagte der Onkel warnend, „die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen.“ „Ich ahne ja, was du willst,“ sagte K. folgsam, „du hast wahrscheinlich von meinem Prozeß gehört.“ „So ist es,“ antwortete der Onkel, langsam nickend, „ich habe von deinem Prozeß gehört.“ „Von wem denn?“ fragte K. „Erna hat es mir geschrieben,“ sagte der Onkel, „sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider nicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus keinem andern Grund, aber es scheint ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle, die dich betrifft, vorlesen.“ Er zog den Brief aus der Brieftasche. „Hier ist es. Sie schreibt: Josef habe ich schon lange nicht gesehn, vorige Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe fast eine Stunde gewartet, mußte dann aber nach Hause, weil ich Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Schokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich daran. Schokolade, müßt Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort, kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Schokolade beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den Prozeß, der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein Prozeß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Prozeß, und zwar ein schwerer Prozeß, mehr aber wisse er nicht. Er selbst möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und gerechter Herr, aber er wisse nicht, wie er es anfangen sollte, und er möchte nur wünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch sicher geschehn und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar nicht gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, andern gegenüber davon zu sprechen und halte das Ganze für ein Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehn wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und wenn es wirklich nötig sein sollte, durch Deine großen einflußreichen Bekanntschaften einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was ja das Wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit geben, Dich zu umarmen, was sie freuen würde.“ „Ein gutes Kind,“ sagte der Onkel, als er die Vorlesung beendet hatte, und wischte einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge der verschiedenen Störungen der letzten Zeit Erna vollständig vergessen, sogar ihren Geburtstag hatte er vergessen, und die Geschichte von der Schokolade war offenbar zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr rührend, und mit den Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig schicken wollte, gewiß nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen 18 jährigen Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet. „Und was sagst du jetzt?“ fragte der Onkel, der durch den Brief alle Eile und Aufregung vergessen hatte und ihn noch einmal zu lesen schien. „Ja, Onkel,“ sagte K., „es ist wahr.“ „Wahr?“ rief der Onkel, „Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein? Was für ein Prozeß? Doch nicht ein Strafprozeß?“ „Ein Strafprozeß,“ antwortete K. „Und du sitzt ruhig hier und hast einen Strafprozeß auf dem Halse?“ rief der Onkel, der immer lauter wurde. „Je ruhiger ich bin, desto besser ist es für den Ausgang,“ sagte K. müde. „Fürchte nichts.“ „Das kann mich nicht beruhigen,“ rief der Onkel, „Josef, lieber Josef, denke an dich, an deine Verwandten, an unsern guten Namen. Du warst bisher unsere Ehre, du darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung,“ er sah K. mit schief geneigtem Kopfe an, „gefällt mir nicht, so verhält sich kein unschuldig Angeklagter, der noch bei Kräften ist. Sag mir nur schnell, um was es sich handelt, damit ich dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die Bank?“ „Nein,“ sagte K. und stand auf, „du sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht. Das ist mir unangenehm. Wir wollen lieber weggehn. Ich werde dir dann alle Fragen so gut es geht beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie Rechenschaft schuldig bin.“ „Richtig,“ schrie der Onkel, „sehr richtig, beeile dich nur, Josef, beeile dich.“ „Ich muß nur noch einige Aufträge geben,“ sagte K. und berief telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen Augenblicken eintrat. Der Onkel in seiner Aufregung zeigte ihm mit der Hand, daß K. ihn habe rufen lassen, woran auch sonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor dem Schreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühl aber aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter Zuhilfenahme verschiedener Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit heute noch erledigt werden müsse. Der Onkel störte, indem er zuerst mit großen Augen und nervösem Lippenbeißen dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der Anschein dessen war schon störend genug. Dann aber ging er im Zimmer auf und ab und blieb hie und da vor dem Fenster oder vor einem Bild stehen, wobei er immer in verschiedene Ausrufe ausbrach, wie: „Mir ist es vollständig unbegreiflich“ oder „Jetzt sagt mir nur, was soll denn daraus werden.“ Der junge Mann tat, als bemerke er nichts davon, hörte ruhig K.s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und ging, nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt hatte, der ihm aber gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit ausgestreckten Händen die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch kaum geschlossen, als der Onkel ausrief: „Endlich ist der Hampelmann weggegangen, jetzt können doch auch wir gehn. Endlich!“ Es gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der Vorhalle, wo einige Beamte und Diener herumstanden und die gerade auch der Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen wegen des Prozesses zu unterlassen. „Also, Josef,“ begann der Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehenden durch leichtes Salutieren beantwortete, „jetzt sag’ mir offen, was es für ein Prozeß ist.“ K. machte einige nichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig und erst auf der Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe offen reden wollen. „Richtig,“ sagte der Onkel, „aber jetzt rede.“ Mit geneigtem Kopf, eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend, hörte er zu. „Vor allem, Onkel,“ sagte K., „handelt es sich gar nicht um einen Prozeß vor dem gewöhnlichen Gericht.“ „Das ist schlimm,“ sagte der Onkel. „Wie?“ sagte K. und sah den Onkel an. „Daß das schlimm ist, meine ich,“ wiederholte der Onkel. Sie standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier zu horchen schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte Straßenverkehr nahm sie auf. Der Onkel, der sich in K. eingehängt hatte, fragte nicht mehr so dringend nach dem Prozeß, sie gingen sogar eine Zeitlang schweigend weiter. „Wie ist es aber geschehn?“ fragte endlich der Onkel, so plötzlich stehen bleibend, daß die hinter ihm gehenden Leute erschreckt auswichen. „Solche Dinge kommen doch nicht plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen gewesen sein, warum hast du mir nicht geschrieben. Du weißt, daß ich für dich alles tue, ich bin ja gewissermaßen noch dein Vormund und war bis heute stolz darauf. Ich werde dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn der Prozeß schon im Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn du dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst du dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendigerweise automatisch auch dir gegenüber anwenden; auf das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich, telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber läßt dich aufatmen.“ „Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren,“ sagte K., den die Rede des Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. „Ich glaube nicht, daß sie das tun werden,“ sagte der Onkel nachdenklich, „so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durch deine Abreise erleiden.“ „Ich dachte,“ sagte K. und faßte den Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können, „daß du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer.“ „Josef,“ rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehn bleiben zu können, aber K. ließ ihn nicht, „du bist verwandelt, du hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen und gerade jetzt verläßt es dich? Willst du denn den Prozeß verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben: „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben.“ „Lieber Onkel,“ sagte K., „die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Prozesse nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in Mitleidenschaft gezogen würde, — was ich für meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache — so will ich dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in deinem Sinn nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache mehr betreiben.“ „Richtig,“ sagte der Onkel in einem Ton, als kämen sie jetzt endlich einander näher, „ich machte den Vorschlag nur, weil ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt, wenn ich statt deiner für dich arbeitete. Willst du sie aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser.“ „Darin wären wir also einig,“ sagte K. „Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst machen soll?“ „Ich muß mir natürlich die Sache noch überlegen,“ sagte der Onkel, „du mußt bedenken, daß ich jetzt schon 20 Jahre fast ununterbrochen auf dem Lande bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach. Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf dem Land ein wenig verlassen, das weißt du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen Gelegenheiten. Zum Teil kam mir deine Sache auch unerwartet, wenn ich auch merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas derartiges ahnte und es heute bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.“ Schon während seiner Rede hatte er auf den Fußspitzen stehend einem Automobil gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. „Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld,“ sagte er, „er war mein Schulkollege. Du kennst den Namen gewiß auch? Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.“ „Mir ist alles recht, was du unternimmst,“ sagte K., trotzdem ihn die eilige und dringliche Art, mit der der Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es war nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu fahren. „Ich wußte nicht,“ sagte er, „daß man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehen könne.“ „Aber natürlich,“ sagte der Onkel, „das ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht? Und nun erzähle mir, damit ich über die Sache genau unterrichtet bin, alles, was bisher geschehen ist.“ K. begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben konnte. Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber das beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem Prozeß in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der aber das Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor einem dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür; während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und flüsterte: „8 Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld nimmt es mir aber nicht übel.“ Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große schwarze Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu haben. „Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet,“ sagte der Onkel und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch die offene Gasflamme, die nahe über den Köpfen stark zischend brannte, aber wenig Licht gab. „Öffnen Sie,“ rief der Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür, „es sind Freunde des Herrn Advokaten.“ „Der Herr Advokat ist krank,“ flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem Ruck um, rief: „Krank? Sie sagen, er ist krank?“ und ging fast drohend, als sei der Herr die Krankheit, auf ihn zu. „Man hat schon geöffnet,“ sagte der Herr, zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen — K. erkannte die dunklen, ein wenig hervorgewälzten Augen wieder — stand in langer weißer Schürze im Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. „Nächstens öffnen Sie früher,“ sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen kleinen Knix machte. „Komm, Josef,“ sagte er dann zu K., der sich langsam an dem Mädchen vorüberschob. „Der Herr Advokat ist krank,“ sagte das Mädchen, da der Onkel, ohne sich aufzuhalten, auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstüre wieder zu versperren, es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder. „Josef,“ rief der Onkel wieder und das Mädchen fragte er: „Es ist das Herzleiden?“ „Ich glaube wohl,“ sagte das Mädchen, es hatte Zeit gefunden mit der Kerze voranzugehn und die Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers, wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht mit langem Bart. „Leni, wer kommt denn,“ fragte der Advokat, der, durch die Kerze geblendet, die Gäste nicht erkannte. „Albert, dein alter Freund ist es,“ sagte der Onkel. „Ach Albert,“ sagte der Advokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, als bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung. „Steht es wirklich so schlecht?“ fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand. „Ich glaube es nicht. Es ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehn wie die frühern.“ „Möglich,“ sagte der Advokat leise, „es ist aber ärger, als es jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an Kraft.“ „So,“ sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner großen Hand fest aufs Knie. „Das sind schlechte Nachrichten. Hast du übrigens die richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange her, seitdem ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir freundlicher. Auch dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig oder sie verstellt sich.“ Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der Tür; soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ, sah sie eher K. an als den Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe des Mädchens geschoben hatte. „Wenn man so krank ist wie ich,“ sagte der Advokat, „muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav.“ Den Onkel konnte das aber nicht überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin voreingenommen und wenn er auch dem Kranken nichts entgegnete, so verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie jetzt zum Bett hinging, die Kerze auf das Nachttischchen stellte, sich über den Kranken hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die Rücksicht auf den Kranken, stand auf, ging hinter der Pflegerin hin und her, und K. hätte es nicht gewundert, wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen, dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte er sich nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur in der Absicht, die Pflegerin zu beleidigen: „Fräulein, bitte, lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund eine persönliche Angelegenheit zu besprechen.“ Die Pflegerin, die noch weit über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an der Wand glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einen auffallenden Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann wieder überfließenden Reden des Onkels bildete: „Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keine Angelegenheiten besprechen.“ Sie hatte die Worte des Onkels wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte es selbst von einem Unbeteiligten als spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhr natürlich wie ein Gestochener auf. „Du Verdammte,“ sagte er im ersten Gurgeln der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak, er etwas Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel zu, mit der bestimmten Absicht, ihm mit beiden Händen den Mund zu schließen. Glücklicherweise erhob sich aber hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht, als schlucke er etwas Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: „Wir haben natürlich auch noch den Verstand nicht verloren; wäre das, was ich verlange, nicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte gehn Sie jetzt.“ Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett dem Onkel voll zugewendet, mit der einen Hand streichelte sie, wie K. zu bemerken glaubte, die Hand des Advokaten. „Du kannst vor Leni alles sagen,“ sagte der Kranke zweifellos im Ton einer dringenden Bitte. „Es betrifft nicht mich,“ sagte der Onkel, „es ist nicht mein Geheimnis.“ Und er drehte sich um, als gedenke er in keine Verhandlungen mehr einzugehn, gebe aber noch eine kleine Bedenkzeit. „Wen betrifft es denn?“ fragte der Advokat mit erlöschender Stimme und legte sich wieder zurück. „Meinen Neffen,“ sagte der Onkel, „ich habe ihn auch mitgebracht.“ Und er stellte vor: Prokurist Josef K. „Oh,“ sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand entgegen, „verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni,“ sagte er dann zu der Pflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand, als gelte es einen Abschied für lange Zeit. „Du bist also,“ sagte er endlich zum Onkel, der versöhnt nähergetreten war, „nicht gekommen, mir einen Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst in Geschäften.“ Es war, als hätte die Vorstellung eines Krankenbesuches den Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einen Ellbogen aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte, und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes. „Du siehst schon viel gesünder aus,“ sagte der Onkel, „seitdem diese Hexe draußen ist.“ Er unterbrach sich, flüsterte: „Ich wette, daß sie horcht“ und sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere Bosheit, wohl aber verbittert. „Du verkennst sie,“ sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort: „Was die Angelegenheit deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn meine Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche, könnte man ja noch jemanden andern beiziehen. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte, auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.“ K. glaubte kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehn, er sah den Onkel an, um doch eine Erklärung zu finden, aber dieser saß mit der Kerze in der Hand auf dem Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneiflasche auf den Teppich gerollt war, nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Prozeß erzählt? Aber das war unmöglich, alles was vorhergegangen war, sprach dagegen. „Ich verstehe nicht“ — sagte er deshalb. „Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden?“ fragte der Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. „Ich war vielleicht voreilig. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte, es handle sich um Ihren Prozeß?“ „Natürlich,“ sagte der Onkel und fragte dann K.: „Was willst du denn?“ „Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Prozeß?“ fragte K. „Ach so,“ sagte der Advokat lächelnd, „ich bin doch Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene Prozesse und auffallendere, besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis. Das ist doch nichts Merkwürdiges.“ „Was willst du denn?“ fragte der Onkel K. nochmals. „Du bist so unruhig.“ „Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen,“ fragte K. „Ja,“ sagte der Advokat. „Du fragst wie ein Kind,“ sagte der Onkel. „Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?“ fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. „Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden,“ hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. „Sie müssen doch bedenken,“ fuhr der Advokat fort, in einem Tone, als erkläre er etwas Selbstverständliches, überflüssigerweise und nebenbei, „Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem solchen Verkehr auch große Vorteile für meine Klientel ziehe, und zwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal immer davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner Krankheit ein wenig behindert, aber ich bekomme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Gericht und erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr als manche, die in bester Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe ich z. B. gerade jetzt einen lieben Besuch.“ Und er zeigte in eine dunkle Zimmerecke. „Wo denn?“ fragte K. in der ersten Überraschung fast grob. Er sah unsicher umher; das Licht der kleinen Kerze drang bei weitem nicht bis zur gegenüberliegenden Wand. Und wirklich begann sich dort in der Ecke etwas zu rühren. Im Licht der Kerze, die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort bei einem kleinen Tischchen einen älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er solange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die andern durch seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehn. „Ihr habt uns nämlich überrascht,“ sagte der Advokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrn aufmunternd zu, näherzukommen, was dieser langsam, zögernd, herumblickend und doch mit einer gewissen Würde tat, „der Herr Kanzleidirektor — ach so, Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt — hier mein Freund Albert K., hier sein Neffe Prokurist Josef K. und hier der Herr Kanzleidirektor — der Herr Kanzleidirektor also war so freundlich, mich zu besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich nur der Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der liebe Kanzleidirektor mit Arbeit überhäuft ist. Nun, er kam aber trotzdem, wir unterhielten uns friedlich, soweit meine Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verboten, Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben sollten, dann aber kamen deine Fausthiebe, Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel und Tisch in den Winkel, nun aber zeigt sich, daß wir möglicherweise, d. h. wenn der Wunsch danach besteht, gemeinsame Angelegenheit zu besprechen haben und sehr gut wieder zusammenrücken können. — Herr Kanzleidirektor,“ sagte er mit Kopfneigen und unterwürfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in der Nähe des Bettes. „Ich kann leider nur noch ein paar Minuten bleiben,“ sagte der Kanzleidirektor freundlich, setzte sich breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, „die Geschäfte rufen mich. Jedenfalls will ich nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, einen Freund meines Freundes kennenzulernen.“ Er neigte den Kopf leicht gegen den Onkel, der von der neuen Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge seiner Natur Gefühle der Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und die Worte des Kanzleidirektors mit verlegenem, aber lautem Lachen begleitete. Ein häßlicher Anblick! K. konnte ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand, der Kanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da er nun schon einmal hervorgezogen war, die Herrschaft über das Gespräch an sich, der Advokat, dessen erste Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen Besuch zu vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre, zu, der Onkel als Kerzenträger — er balancierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat sah öfters besorgt hin — war bald frei von Verlegenheit und nur noch entzückt, sowohl von der Art der Rede des Kanzleidirektors, als auch von den sanften wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K., der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar mit Absicht vollständig vernachlässigt und diente den alten Herren nur als Zuhörer. Übrigens wußte er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehn hatte, vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn er sich vielleicht auch täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit den schüttern Bärten, vorzüglich eingefügt.
Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbrechendem Porzellan alle aufhorchen. „Ich will nachsehn, was geschehen ist,“ sagte K. und ging langsam hinaus, als gebe er den andern noch Gelegenheit, ihn zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt, eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.s Hand und die Tür leise schloß. Es war die Pflegerin, die hier gewartet hatte. „Es ist nichts geschehn,“ flüsterte sie, „ich habe nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.“ In seiner Befangenheit sagte K.: „Ich habe auch an Sie gedacht.“ „Desto besser,“ sagte die Pflegerin, „kommen Sie.“ Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür aus mattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete. „Treten Sie doch ein,“ sagte sie. Es war jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht sehen konnte, das jetzt nur einen kleinen viereckigen Teil des Fußbodens an jedem der zwei großen Fenster stark erhellte, war es mit schweren alten Möbelstücken ausgestattet. „Hierher,“ sagte die Pflegerin und zeigte auf eine dunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah sich K. im Zimmer um, es war ein hohes großes Zimmer, die Kundschaft des Armenadvokaten mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubte die kleinen Schritte zu sehn, mit denen die Besucher zu dem gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber vergaß er daran und hatte nur noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne drückte. „Ich dachte,“ sagte sie, „Sie würden allein zu mir herauskommen, ohne daß ich Sie erst rufen müßte. Es war doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an und dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni,“ fügte sie noch rasch und unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser Aussprache versäumt werden. „Gern,“ sagte K. „Was aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern und auch Sie, Leni, sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären.“ „Das ist es nicht,“ sagte Leni, legte den Arm über die Lehne und sah K. an, „aber ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen wahrscheinlich auch jetzt nicht.“ „Gefallen wäre ja nicht viel,“ sagte K. ausweichend. „Oh!“ sagte sie lächelnd und gewann durch K.s Bemerkung und diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehn. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. „Vielleicht ist das mein Richter,“ sagte K. und zeigte mit einem Finger auf das Bild. „Ich kenne ihn,“ sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, „er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.“ Auf die letzte Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine Schulter. Zu dem übrigen aber sagte er: „Was für einen Rang hat er?“ „Er ist Untersuchungsrichter,“ sagte sie, ergriff K.s Hand, mit der er sie umfaßt hielt, und spielte mit seinen Fingern. „Wieder nur Untersuchungsricher,“ sagte K. enttäuscht, „die hohen Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel.“ „Das ist alles Erfindung,“ sagte Leni, das Gesicht über K.s Hand gebeugt, „in Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Prozeß denken?“ fügte sie langsam hinzu. „Nein, durchaus nicht,“ sagte K., „ich denke wahrscheinlich sogar zu wenig an ihn.“ „Das ist nicht der Fehler, den Sie machen,“ sagte Leni, „Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich es gehört.“ „Wer hat das gesagt?“ fragte K., er fühlte ihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr reiches dunkles fest gedrehtes Haar hinab. „Ich würde zuviel verraten, wenn ich das sagte,“ antwortete Leni. „Fragen Sie, bitte, nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren Fehler ab, seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit, zu entschlüpfen, gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht möglich, wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich Ihnen selbst leisten.“ „Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den Betrügereien, die hier nötig sind,“ sagte K. und hob sie, da sie sich allzu stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. „So ist es gut,“ sagte sie und richtete sich auf seinem Schoß ein, indem sie den Rock glättete und die Bluse zurechtzog. Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah ihn lange an. „Und wenn ich das Geständnis nicht mache, dann können Sie mir nicht helfen?“ fragte K. versuchsweise. Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sie auf meinem Schoß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! „Nein,“ antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, „dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.“ „Haben Sie eine Geliebte?“ fragte sie nach einem Weilchen. „Nein,“ sagte K. „O doch,“ sagte sie. „Ja, wirklich,“ sagte K., „denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir.“ Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schoß studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die festen Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. „Sie ist stark geschnürt,“ sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war. „Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So große starke Mädchen wissen oft nichts anderes, als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?“ „Nein,“ sagte K., „sie ist weder sanft und freundlich, noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja, ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehn wie Sie.“ „Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr,“ sagte Leni, „sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.“ „Doch,“ sagte K. „Ich nehme mein Wort nicht zurück.“ „Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein,“ sagte Leni, „Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand andern, z. B. für mich, eintauschen würden.“ „Gewiß,“ sagte K. lächelnd, „das wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Prozeß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen.“ „Das ist kein Vorteil,“ sagte Leni. „Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?“ „Einen körperlichen Fehler?“ fragte K. „Ja,“ sagte Leni, „ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.“ Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. „Was für ein Naturspiel,“ sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu. „Was für eine hübsche Kralle!“ Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. „Oh!“ rief sie aber sofort, „Sie haben mich geküßt!“ Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schoß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt, da sie ihm so nahe war, ging ein bitterer Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. „Sie haben mich eingetauscht,“ rief sie von Zeit zu Zeit, „sehen Sie, nun haben Sie mich doch eingetauscht!“ Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. „Jetzt gehörst du mir,“ sagte sie.
„Hier hast du den Hausschlüssel, komm, wann du willst,“ waren ihre letzten Worte und ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehn auf den Rücken. Als er aus dem Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehn, um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte aus einem Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn bei den Armen und stieß ihn gegen das Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. „Junge,“ rief er, „wie konntest du nur das tun! Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst dich mit einem kleinen schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg. Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst zu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der Onkel, der sich für dich abmüht, der Advokat, der für dich gewonnen werden soll, der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der deine Sache in ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen beraten, wie dir zu helfen wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den Kanzleidirektor und du hättest doch allen Grund, mich wenigstens zu unterstützen. Statt dessen bleibst du fort. Schließlich läßt es sich nicht verheimlichen, nun, es sind höfliche gewandte Männer, sie sprechen nicht davon, sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht mehr überwinden und da sie von der Sache nicht reden können, verstummen sie. Wir sind minutenlang schweigend dagesessen und haben gehorcht, ob du nicht doch endlich kämest. Alles vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel länger geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauert mich sichtlich, ohne mir helfen zu können, wartet in unbegreiflicher Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war natürlich glücklich, daß er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch stärker eingewirkt, er konnte, der gute Mann, gar nicht sprechen, als ich mich von ihm verabschiedete. Du hast wahrscheinlich im seinem vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den Tod eines Mannes, auf den du angewiesen bist. Und mich, deinen Onkel, läßt du hier im Regen, fühle nur, ich bin ganz durchnäßt, stundenlang warten.“